Erstes Urteil eines deutschen Gerichts wegen von der syrischen Regierung inszenierter Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Koblenz – Ein ehemaliger syrischer Regierungsbeamter wurde heute vom Oberlandesgericht Koblenz wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Form von Folter und anderer Verbrechen, Mordes und sexualisierter Gewalt schuldig gesprochen sowie zu lebenslanger Haft verurteilt. In diesem Prozess gegen Anwar R., der am 24. Februar 2021 auch zur Verurteilung eines weiteren nachrangigen Beamten, Eyad A., führte, verurteilte ein Gericht zum ersten Mal syrische Regierungsbeamte aufgrund ihrer Beteiligung an der Folterung und Ermordung von Zivilisten in von der Regierung geführten Gefängnissen im Zusammenhang mit der brutalen Unterdrückung friedlicher Proteste durch Präsident Bashar al-Assad im Jahr 2011 und dem daraus folgenden Konflikt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Als hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter, der das Ermittlerteam des von der Regierung geführten al-Khatib-Gefängnisses in Damaskus, auch bekannt als Abteilung 251, leitete, veranlasste und überwachte Anwar R. die systematische Folterung friedlicher pro-demokratischer Demonstranten, um die Bevölkerung einzuschüchtern und falsche Geständnisse zu erzwingen. Anwar R. wurde angeklagt, die Verantwortung für die Folterung von mindestens 4.000 Gefangenen zwischen dem 30. April 2011 und dem 7. September 2012 zu tragen. Von Zeugen wurden Anwar R. im Laufe des Verfahrens 30 Todesfälle angelastet, obwohl die Zahl der tatsächlichen Todesfälle unter seinem Kommando wahrscheinlich noch höher ist.
„Wenngleich die Opfer von Anwar R. die Möglichkeit hatten, über die Folter und das Leid, das sie erfahren haben, zu berichten, werden wir niemals von den unzähligen Geschichten erfahren, die nicht gehört wurden - von denen, die gestorben sind, oder den 64.000 Personen, die immer noch inhaftiert sind oder vermisst werden“, bemerkte Eric Witte, Senior Policy Officer bei der Open Society Justice Initiative. „Dieses Verfahren stellt einen ersten Schritt dar, um allen Opfern der systematischen Folter in Syrien ein gewisses Maß an Gerechtigkeit zu verschaffen, indem es sicherstellt, dass die Zeugenaussagen und Beweise der Überlebenden dazu beitragen, die Verbrechen der Regierung Baschar al-Assad aufzudecken.“
Steve Kostas, Senior Legal Officer der Open Society Justice Initiative, fügte hinzu: „Diese Verbrechen wurden nicht nur von einer Einzelperson begangen. Es handelt sich um Staatsverbrechen, die von Baschar al-Assad selbst überwacht wurden. In diesem Prozess geht es nicht nur um vergangene Ereignisse, sondern es wurden auch die systematischen Gräueltaten offen gelegt, die bis heute an unschuldigen Syrern begangen werden.“
„Die in diesem Prozess ermittelten Nachweise sollten Länder davon abhalten, ihre Beziehungen zur syrischen Regierung zu normalisieren, und sollten Regierungen dazu bewegen, sicherzustellen, dass Präsident Assad und die anderen Verantwortlichen für Syriens Inhaftierungs- und Folterprogramm strafrechtlich verfolgt werden.“
Zeugen in dem Verfahren schilderten, dass sie zahlreichen physischen und psychologischen Foltermethoden ausgeliefert waren. Dazu zählten das Schlagen von Gefangenen mit Kabeln und Stöcken sowie das Schlagen ihrer Köpfe gegen die Wand bei ihrer Ankunft, was die Offiziere als „Willkommensparty“ bezeichneten; das Übergießen der Gefangenen mit kaltem Wasser und die anschließende Anwendung von Elektroschocks; sowie stundenlange Zwangshaltungen in schmerzvollen Positionen. Zeugen berichteten über die häufige Anwendung der „Falaka“-Foltermethode, bei der man die Gefangenen auf die Fußsohlen schlug. Frauen wurden sexuell missbraucht und vergewaltigt und waren auch nach ihrer Entlassung aus der Haft häufig Ächtung und Gewalt ausgesetzt. Die allgemeinen Haftbedingungen wie Überbelegung, fehlende Hygiene und medizinische Versorgung, knappe Verpflegung und schlechte Luftzirkulation kamen ebenfalls einer Folter gleich, wie das Gericht bereits in seinem Urteil vom 24. Februar 2021 festgestellt und in seinem heutigen Urteil bekräftigt hat.
Während des Prozesses wiesen Beobachter zudem die Schwierigkeiten hin, die sich negativ auf die Möglichkeiten der Opfer und anderer betroffener Syrer zur Teilnahme an dem Verfahren und dessen Verfolgung auswirkten. Dazu zählten unzureichender Zeugenschutz, mangelnde Kontakte zu den betroffenen Gemeinschaften, das Fehlen von Übersetzungsdiensten sowie fehlende Gerichtsunterlagen. „Dieser Prozess legt als erstes Verfahren, das in Syrien begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachweist, einen Grundstein für internationale Gerechtigkeit“, sagte Dr. Anna Oehmichen, Prozessanwältin und gemeinsame Vertreterin von fünf Kläger*innen mit der Initiative für Gerechtigkeit. „Insofern ist es eine verpasste Gelegenheit, dass das Gericht die Aufzeichnung dieses Prozesses für akademische und historische Zwecke ablehnte. Dadurch gibt es keine offizielle Dokumentierung dessen, was tatsächlich ausgesagt wurde. Das ist ein Verlust für künftige Gerichtsverfahren und Akademiker auf der ganzen Welt.“
Die Initiative für Gerechtigkeit vertrat in dem Prozess fünf Überlebende von Folterungen während der Haft und bei Verhören.